Edgar Ludwig Gärtner

Edgar Ludwig Gärtner

Samstag, 26. Mai 2018


Europas Aufstieg gründet nicht auf Menschenrechten
Von Edgar Ludwig Gärtner
Angebliche Freunde Europas sind dabei, die letzten 3.500 Jahre der menschlichen Entwicklung umzuschreiben. Diese Umdeutung der Geistesgeschichte zielt vor allem darauf ab, die Ur- oder Erbsünde des Menschen, die spätestens seit Augustinus zum festen Bestandteil des abendländischen Menschenbildes gehört, vergessen zu machen – wohl, um damit den massenhaft anstürmenden Zuwanderern islamischen Glaubens entgegenzukommen. Denn im Islam gilt der Mensch von Geburt an als Allah unterworfen und daher unschuldig. Wer von der Existenz der Ursünde ausgeht, erkennt hingegen die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen an. Und das ist für einen gläubigen Muslim unvorstellbar. Um Missverständnisse zu vermeiden: Es geht im Folgenden weniger um die Gnade des christlichen Glaubens, zu der vermutlich immer nur eine Minderheit Zugang finden wird, sondern um die breite christliche Kultur. Darin gilt der Mensch nicht als unschuldige „blonde Bestie“, sondern als fehlbar, dem Bösen zugeneigt, unfähig, aus sich heraus das Gute zu tun, wenngleich grundsätzlich zum Erhabenen befähigt. (Ich gehe hier zunächst nicht auf die Perversion dieses selbstkritischen Menschenbildes durch die Kultivierung von Schuldkomplexen ein.)
Allerdings hat sich bereits die französische Aufklärung von diesem Menschenbild abgewandt, indem sie zunehmend die Realität des Bösen leugnete. Nach dem neuen politisch-korrekten Narrativ beginnt die europäische Kultur nicht mit der Christianisierung der Franken und der späteren Übernahme des römischen Rechts sowie der griechischen Philosophie, sondern mit der am 26. August 1789 durch die französische Nationalversammlung verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Es war der aus dem französischen Zentralmassiv stammende Marquis de Lafayette, ein im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zu Ruhm gelangter militärischer Führer, der 1789 als Mitglied der französischen Generalstände der Nationalversammlung einen auf der Virgina Bill of Rights von 1776 und der noch älteren englischen Bill of Rights sowie den politischen Philosophien von Montesquieu und Rousseau fußenden Entwurf der Allgemeinen Menschenrechterklärung vorlegte – und das selbstverständlich in bester Absicht.
In Artikel 2 des schließlich angenommenen Textes heißt es: Der Zweck jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unantastbaren Menschenrechte. Diese sind das Recht auf Freiheit, das Recht auf Eigentum, das Recht auf Sicherheit und das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung.“ Frankreich wurde damit zu einer der ersten Nationen, die sich zumindest vordergründig nicht durch eine lange Tradition, sondern durch einen historischen Bruch definierte. Denn bis dahin war viel mehr von Pflichten als von Rechten die Rede. In der Erklärung von 1789 wurde freilich zum ersten Mal in Kontinentaleuropa die Legitimität des Widerstands gegen despotische Unterdrückung anerkannt.
Die Menschenrechtserklärung von 1789 wurde zum Vorbild der am 10. Dezember 1948 von der UN-Generalversammlung im Pariser Palais Chaillot verabschiedeten (völkerrechtlich nicht verbindlichen!) Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Grundlage der in Paris angenommenen Textfassung war ein Katalog von 26 Menschenrechten, die der bekannte französische katholische Philosoph Jacques Maritain auf der Basis eigener Schriften in Mexiko ausgearbeitet hatte. Maritain übte später als Berater von Papst Paul VI. großen Einfluss auf den Gang des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) aus. Hauptanliegen der progressistischen Mehrheits-Fraktion der in Rom versammelten kirchlichen Würdenträger war nach Aussage des dort als Berater des Kölner Kardinals Frings ebenfalls anwesenden deutschen Theologen Joseph Ratzinger, des späteren Papstes Benedikt XVI., die Versöhnung der Kirche mit dem Geist von 1789. Maritain, der sich später (wie übrigens auch Paul VI. und Ratzinger) von etlichen vom Vatikanum II angestoßenen Entwicklungen distanzierte, begründete sein Eintreten für die Proklamation allgemeiner Menschenrechte mit der unter anderen auf den heiligen Thomas von Aquin zurückgehenden Naturrechtslehre.
Doch inzwischen ist die Berufung auf Rechte, die die Menschen sich selbst geben oder zu Naturrechten erklären, längst ins Absurde abgeglitten. Da werden wie das Selbstverständlichste der Welt Rechte wie das Recht auf „Ehe für alle“, das Recht auf Kinder, das Recht auf Abtreibung, das Recht auf auskömmliche Arbeit, das Recht auf einen Mindestlohn, das Recht auf ein bedingungsloses Grundeinkommen, das Recht auf grenzenlose Einwanderung, das Recht auf Sezession, das Recht auf Leben und das Recht auf einen selbstbestimmten Tod gefordert. Ansprüche auf „n’importe quoi“, würden die Franzosen wohl sagen. Diese Inflation erfundener Menschenrechte kann meines Erachtens nur gestoppt werden, indem die Theorie beziehungsweise Ideologie der Menschenrechte grundsätzlich hinterfragt wird.
Simone Weil (1909-1943), jene hochintelligente, klassisch gebildete französische Philosophin jüdischer Herkunft, die zur republikanischen Widerstandskämpferin und christlichen Mystikerin wurde, ist da in ihrem im britischen Exil geschriebenen und 1949 posthum veröffentlichten Werk „L’enracinement“ (Die Verwurzelung) kategorisch: Rechte gibt es nur, soweit ihnen Verpflichtungen, Obligationen gegenüberstehen. Das Primat kommt also nicht den Rechten, sondern den Pflichten zu. Es gibt deshalb keine allgemeinen Menschenrechte, sondern nur Pflichten gegenüber sich selbst und gegenüber den Mitmenschen. Weils Katalog der Menschenpflichten beginnt nicht zufällig mit der Ordnung, gefolgt von der Freiheit und der Verantwortung. Simone Weil wirft den Revolutionären von 1789 vor, einen desaströsen Fehler begangen zu haben, indem sie allgemeine Menschenrechte verkündeten, die zu Missverständnissen und Missbrauch geradezu einladen, statt an eindeutige Pflichten jedes Individuums zu erinnern.
Für Christen gilt das Liebesgebot der demütigen Nachfolge Christi, das ganz der Gegenwart zugewandt ist und dabei der Geschichte der eigenen Kultur nicht mit Gleichgültigkeit oder Verachtung, sondern grundsätzlich mit dem Gefühl der Dankbarkeit gegenübertritt. „Seid gewiss: Ich bin bei Euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt. 28,20) Diese Versicherung des vom Tode auferstandenen Jesus gegenüber seinen Jüngern kann nur so verstanden werden, dass sich seit 2.000 Jahren nichts Wesentliches geändert hat. Das Bewusstsein von der unmittelbaren Gegenwart Christi im täglichen Leben ist im ehemals christlichen Abendland allerdings nur noch bei einer als fundamentalistisch geschmähten Minderheit vorhanden.
Der Eintritt des Gottessohnes Jesus in die Geschichte wurde bislang auch von Nichtchristen als Einschnitt, wenn nicht als entscheidende Weggabelung in der Menschheitsentwicklung gewürdigt. Zumindest begann noch bis vor kurzem die moderne Zeitrechnung mit der Fleischwerdung des Wortes. Im Unterschied zur Behauptung, mit der Entdeckung Amerikas oder der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 beziehungsweise der Einführung des Code civil durch Napoléon Bonaparte sei eine neue Zeit angebrochen, bezieht sich die christliche Zeitrechnung auf einen wirklichen historischen Bruch. Worin diese geschichtliche Wende genau besteht, hat meines Erachtens der im November 2015 verstorbene französisch-amerikanische Literaturwissenschaftler René Girard am überzeugendsten dargelegt. Ausgehend von literarischen Zeugnissen sowie von ethnologischen Forschungen kam Girard, angeregt von Simone Weil, zur Erkenntnis, dass die Bibel neben der frohen Botschaft der Erlösung auch den Schlüssel für die wissenschaftliche Erklärung des Ursprungs der Kultur enthält: Wir sind alle Nachkommen Adams und Kains, besitzen also aufgrund der Ursünde der Trennung von Gott einen angeborenen Hang, andere zu beneiden, uns mit ihnen zu vergleichen, sie übertreffen beziehungsweise richten zu wollen und uns am Ende selbst an Gottes Stelle zu setzen. Das Begehren tritt bei den Menschen an die Stelle der tierischen Instinkte. Physiologische Grundlage dieses Mimetismus sind wahrscheinlich die so genannten Spiegelneurone. Grundsätzlich ist das zunächst etwas Positives, weil es uns zur Einfühlsamkeit, zum Lernen durch Nachahmung und zur Freiheit von uns selbst befähigt. Aber sehr leicht wird daraus im wahrsten Sinne des Wortes ein Teufelskreis. Die Nachahmung anderer führt zu konkurrierenden Macht- und Besitzansprüchen, die nach einer gewaltsamen Lösung drängen. In allen Stammesgesellschaften besteht diese „Lösung“ im Ausgucken von (austauschbaren) Sündenböcken, die einem Lynch-Mob zum Opfer fallen.
Der Ursprung aller Kultur und auch des Staates liegt für René Girard und etliche moderne Anthropologen in rituellen Menschenopfern und Kannibalismus. Etwas zugespitzt könnte man sagen: Der Mensch ist von Natur aus Kannibale – und zwar nicht aufgrund eines angeborenen Aggressions- oder Tötungstriebs, sondern wegen der mimetischen Rivalität, die auf das von Satan angestachelte Begehren zurückgeht. Die vom heiligen Augustinus so bezeichnete menschliche Ursünde (im Deutschen etwas unglücklich als „Erbsünde“ übersetzt) besteht nach Girard im falschen Gebrauch der Mimesis, im Wunsch, Mitmenschen zu übertreffen und letztlich gottgleich zu werden. Alle Ursprungs-Mythen spielen in der einen oder anderen Weise auf den blutigen Ursprung der menschlichen Kultur an.
Schon in den Stammesgemeinschaften von Jägern und Sammlern konnten Neid und Zwietracht nur besänftigt und damit der Selbstzerstörung der Gemeinschaft Einhalt geboten werden, indem von Zeit zu Zeit Sündenböcke geopfert wurden. Das konnten gefangen genommene Angehörige feindlicher Stämme, aber auch auffällige Angehörige des eigenen Stammes sein. Das Töten geschah um des lieben Friedens willen mit gutem Gewissen. Das heißt die Opfer wurden unreflektiert als schuldig betrachtet. Durch die Wahl des Sündenbocks wurde aus dem Kampf aller gegen alle der vereinte Angriff aller gegen einen einzigen. So wurde durch die Opferung des Sündenbocks für eine gewisse Zeit wieder Eintracht hergestellt. Die alten Griechen nannten das Katharsis. Die Opfer dionysischer Lynchmorde wurden deshalb in Mythologien divinisiert.
In hoch differenzierten Sklavenhalter-Staaten wie im alten Rom oder bei den Azteken in Mexiko wurden Menschenopfer in Form von Gladiatorenkämpfen oder der Kreuzigung beziehungsweise priesterlichen Tötungs-Zeremonien vor großem Publikum ritualisiert. Einen Fortschritt aus heutiger Sicht stellte da sicher der Ersatz der Menschen- durch Tieropfer bei den Juden dar. Das Alte Testament ist, wie insbesondere die Hiobs- und die Josefsgeschichte zeigen, die Schilderung der sukzessiven Überwindung des mimetischen Teufelskreises aufgrund des Moses am Berg Sinai auf steinernen Tafeln übergebenen Dekalogs.
Von Rechten ist darin nicht die Rede, sondern nur von Verboten und Pflichten. Bis vor etwa einem Jahrzehnt glaubte ich selbst noch, die Menschen hätten, dem liberalen Credo entsprechend, durch Versuch und Irrtum allmählich auch selbst darauf kommen können. Das glaube ich heute nicht mehr. Gesellschaftliche Selbstorganisation, Marktwirtschaft als Entdeckungsverfahren im Hayekschen Sinn führt meines Erachtens nur dann zu vernünftigen Ergebnissen, wenn dieser Prozess auf vernünftigen Regeln (Geboten und Verboten) fußt. Diese Anleitungen brauchen, wie die östlichen Religionen zeigen, nicht unbedingt vom Himmel fallen, sondern können auch von weisen Ausnahme-Persönlichkeiten formuliert werden. Es ist aber schwer vorstellbar, dass die Regeln in einem zufallsbestimmten Ausleseprozess entstehen.
Das siebte Gebot des Dekalogs „Du sollst nicht stehlen!“ schließt zum Beispiel alle Formen des Wirtschaftens aus, die auf Raub oder Diebstahl fremden Eigentums beruhen. Wer den Dekalog ernstnimmt, landet folgerichtig bei der auf freiwilligem Tausch beruhenden kapitalistischen Marktwirtschaft und nicht beim Sozialismus in welcher Form auch immer. Eine auf Dauer angelegte Ordnung – sei es in der außermenschlichen Natur oder im Zusammenleben der Menschen – kann nicht durch Zufall entstehen. Es bedarf hierzu des Anstoßes durch die richtige Information, den λόγος im Sinne des Johannes-Evangeliums, wobei lógos kein leeres Wort, sondern eine Relation, die Verbindung zu Gottvater bezeichnet. Erst durch die Anerkennung des Tötungs-, Diebstahls-, Lügen- und Neid-Verbots verlassen die Menschen das barbarische beziehungsweise kannibalische Stadium der Kulturentwicklung.
Das Neue Testament geht noch einen entscheidenden Schritt weiter, indem es die Wahrheit über den unbewussten Mechanismus des Auswählens und Hinrichtens von Sündenböcken offenbart und als Mord an Unschuldigen denunziert. Mit seinem Opfertod am Kreuz, so die Aussage der Bibel, hat Jesus Satan überlistet, indem er als unschuldiges Opferlamm stellvertretend für alle Sünden der Welt gebüßt und dadurch die Menschen vom Fluch Kains erlöst hat. Weitere Menschen- und Tieropfer sind danach im Prinzip überflüssig. Die Christen sind aufgefordert, Jesu Nachfolge anzutreten, indem sie den unbewussten Mechanismus der Suche nach Sündenböcken in der Eucharistie überwinden. Die heilige Kommunion ist nach Girard tatsächlich sublimierter Kannibalismus.
Alle manichäischen Selbsterlösungs-Phantasien, die im Laufe der Geschichte des Christentums auftraten, bedeuten einen Rückfall in die Rechtfertigung von Menschenopfern, wozu auch die Selbstopferung durch übertriebene asketische Übungen zählt. Das zeigt sich besonders deutlich im Islam, der auf einem Synkretismus mehrerer Häresien beruht, in deren Zentrum die Leugnung der Gottessohnschaft, des Kreuzestodes und der Auferstehung Jesu Christi steht. Eine politische Religion, die Menschenopfer und Sklaverei rechtfertigt, darf nicht, wie das heute die postmoderne Multikulti-Ideologie fordert, mit dem Christentum auf eine Stufe gestellt werden!
Der Begriff „Manichäismus“ ist heute im deutschsprachigen Raum nicht mehr so gebräuchlich wie bei den Franzosen. Statt von Manichäern sprechen wir treffender von „Gutmenschen“. Denn es geht dabei im Kern um die Verdrängung der Unterscheidung zwischen „wahr“ und „falsch“ durch die Einteilung der Welt in „Gut“ und „Böse“. Da es echte Freiheit nicht ohne Wahrheitsbezug geben kann, ist diese Verdrängung höchst bedenklich.
Der Begriff „Manichäismus“ geht zurück auf die gnostische Lehre des babylonischen Religionsstifters Mani (216 bis 276). Die ihr zugrundeliegende Denkfigur ist aber wesentlich älter. Denn was Jesus Christus nach dem Zeugnis der Bibel den Pharisäern (genau genommen: den Sadduzäern) vorwirft, ist bereits Manichäismus reinsten Wassers. Denn diese erheben den Anspruch, durch die strenge Befolgung des Gesetzes zu besseren Menschen geworden zu sein. Jesus betonte hingegen, als er eine Ehebrecherin vor der Steinigung bewahrte (Joh 8, 3-11), niemand dürfe sich zum Richter über andere aufspielen, weil wir alle Sünder sind.
Aufgrund anthropologischer und ethnologischer Forschungen wissen wir heute, dass kannibalistische Rituale wie eben auch Steinigungen immer kollektivistischen Logiken folgen. Jesu Aufforderung „Wer ohne Sünde ist, der hebe den ersten Stein“ könnte deshalb auch ein genialer psychologischer Trick gewesen sein, um die kollektivistische Logik zu durchbrechen, da er die versammelten Männer unvermittelt als Individuen anspricht.
Es gehört zu den Kernsätzen des christlichen Glaubens, dass die Menschen sich nicht selbst erlösen können, weil sie die Lebensressourcen Liebe und Sinn nicht selber herstellen, sondern nur von außen empfangen können. Die erste große häretische Bewegung in der Geschichte des Christentums, die Gnosis, hingegen behauptete, nicht die Erlösung durch den stellvertretenden Opfertod Jesu Christi am Kreuz führe zum Heil, sondern die Erkenntnis beziehungsweise „Erleuchtung“, dass der Gott des Alten Testaments in Wirklichkeit Satan gewesen sei, weil er die materielle Welt als „Gefängnis des Lichts“, erschaffen habe. Hier hat übrigens der Antisemitismus seine theologischen Wurzeln. Die systematische Verfolgung und Vernichtung von Juden durch die Nazis war die bislang schrecklichste Konsequenz eines gnostischen Selbsterlösungs-Wahns.
Der von der Kirche auf etlichen Konzilen verurteilte und später in Form von Kreuzzügen physisch bekämpfte gnostisch-manichäische Reinheitskult geht von folgenden den Geist der Bibel verfälschenden Annahmen aus: Die geistige Welt des Lichts wurde vom guten Licht-Gott erschaffen, die materielle Welt hingegen vom bösen Gott, dem „Fürsten der Finsternis“. Folglich kann der gute Gott nicht körperlich Mensch geworden sein und die Schuld der Menschen durch den Tod am Kreuz auf sich genommen haben. Er kann danach auch nicht leiblich wiederauferstanden sein. Die damit begründete Leibfeindlichkeit wurde im Hochmittelalter (vom 11. bis zum 13. Jahrhundert) von den verschiedenen Sekten der Katharer („die Reinen“) auf die Spitze getrieben. Entsprechend ihrem häretischen Ideal der Selbstvervollkommnung unterteilten diese ihre Anhänger in eine kleine Elite, die „Vollkommenen“ (Perfecti), und die Masse der einfachen Gläubigen (Credenti). Um der Gefangenschaft des Materiellen zu entfliehen, verboten sie ihren Anhängern den Fleischgenuss und zwangen die Elite der „Vollkommenen“ zu Gütergemeinschaft, Armut und Ehelosigkeit. Ihr Leben sollten sie durch Selbstmord (Endura) beenden. Kein Wunder, dass Hitler und die führenden Ideologen der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands in den Katharern Seelenverwandte und Vorläufer ihrer Bewegung sahen und während der deutschen Besatzung Frankreichs trotz kriegswirtschaftlicher Rationierung größere Summen in Aussicht stellten, um halb verfallene Katharer-Burgen in Südfrankreich zu restaurieren.
Die gnostisch-manichäische Denkfigur spielte aber nicht nur bei den Katharern eine unheilvolle Rolle, sondern, wie bereits angedeutet, auch und gerade in der kontinentaleuropäischen „Aufklärung“ (im Unterschied zur christlich geprägten schottischen Aufklärung). Ich stelle den Begriff hier bewusst in Anführungszeichen, weil er meines Erachtens Ausdruck von Anmaßung und Eigenlob ist. (Ich schließe mich hier den Ausführungen des in Liechtenstein lehrenden liberalen Religionsphilosophen Daniel von Wachter an.) Mit dem erst im Jahre 1775 geprägten Begriff feierten sich philosophierende Schriftsteller als Erleuchtete, die endlich das Licht der Vernunft in die vom abergläubischen Christentum verursachte Dunkelheit des Mittelalters brachten. Sie stellten also in manichäischer Manier das „gute“ Zeitalter der Aufklärung dem „bösen“ Mittelalter entgegen, indem sie den scholastischen Philosophen unterstellten, sie hätten die Erde für eine Scheibe gehalten. Zwischen Mittelalter und „Aufklärung“ gebe es einen historischen Bruch, behaupteten sie. Der deutsche Mediävist Johannes Fried weist in seiner großen Geschichte des Mittelalters darauf hin, dass im deutschen Sprachraum nicht zuletzt Emmanuel Kant mit seinen spöttischen Bemerkungen über den Katholizismus und den Kunstgeschmack des „finsteren Mittelalters“ den Eindruck erweckte, als hätten erst Voltaire und seine Freunde den Vernunftgebrauch erfunden. Ein Hinweis auf mittelalterliche Denker wie Thomas von Aquin, dessen Philosophie Kant nicht zur Kenntnis nahm, sollte genügen, um die Absurdität dieser selbstgerechten Pose zu illustrieren.
Bei unvoreingenommener Betrachtung erscheint die Zeit zwischen 500 und 1500 nach Christus im Gegenteil als eine der kreativsten Epochen der Weltgeschichte. Im Mittelalter entstanden nicht nur die geistigen Voraussetzungen für die modernen Naturwissenschaften, die der Vorstellung eines vernünftigen Schöpfers der Welt bedurften, also nur in einer jüdisch-christlich geprägten Kultur aufblühen konnten. Dabei konnten die Gelehrten auch auf Erkenntnisse von Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften im alten Griechenland zurückgreifen. Im Mittelalter bildete sich auch eine vom altgriechischen Vorbild inspirierte Kultur städtischer Selbstverwaltung mit Gedanken- und Redefreiheit heraus. Mit dem Erstarken des städtischen Bürgertums wurde dann jene Idee der religiösen und politischen Freiheit wirkmächtig, deren Urheberschaft die „Aufklärer“ für sich beanspruchen. Fried gelangt zum Schluss: „Das Mittelalter war reifer und weiser, neugieriger, erfindungsreicher und kunstsinniger, revolutionärer in Vernunftgebrauch und Denken als jene Aufklärer ahnten und die meisten Zeitgenossen des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts meinen. Dieses Mittelalter war zugleich demütiger und bescheidener in seinen Urteilen über sich selbst.“
Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich möchte hier nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und stehe selbstverständlich zu den wirklich vernünftigen Errungenschaften, die wir, direkt oder indirekt, der Aufklärung verdanken. Ich lehne es aber ab, darin einen Bruch mit dem Mittelalter zu sehen. Zu den problematischen Hinterlassenschaften der Aufklärung gehört freilich nicht nur das oben skizzierte irreführende Bild vom christlichen Mittelalter, sondern eine noch verhängnisvollere Erfindung: die geistige Gleichschaltung im Sinne der Political Correctness.  
Die schon in der Aufklärung angelegte Tendenz zur Gleichschaltung des wissenschaftlichen Diskurses nimmt in der Postmoderne vollends überhand. Hier zählen Fakten am Ende gar nicht mehr, sondern nur noch Simulationen und deren Interpretation. Einmütigkeit über faktenfreie Hypothesen und Theorien kann eben nur mittels politischer Gleichschaltung hergestellt werden. Das zeigt sich aktuell besonders deutlich in der mithilfe von Computersimulationen geschürten Angst vor einer Klimakatastrophe infolge eines Anstiegs der atmosphärischen Kohlenstoffdioxid-Konzentration. Dabei bedienen sich die selbst ernannten Klimaschützer der in Deutschland vor allem von der Frankfurter Schule salonfähig gemachten manichäischen Denkfigur „Gut“ gegen „Wahr“. Die Ächtung des wichtigsten Pflanzennährstoffs als „Klimakiller“ schließt ja ein, dass man die materielle Welt letztlich für ein Werk Satans hält, an dessen Existenz man aber als Postmoderner zumindest nach außen hin gar nicht glauben darf. Die Forderung, den ökologischen Fußabdruck der Menschheit zu minimieren, könnte direkt von den Katharern übernommen sein. Wie ihre mittelalterlichen Vorgänger fordern auch die modernen Manichäer einen radikalen Bruch mit der schlechten Vergangenheit, indem sie eine „Energiewende“ ausrufen.
Erinnert sei hier auch an das pharisäerhafte Auftreten des Ex-US-Vizepräsidenten und Friedens-Nobelpreisträgers Al Gore. Dieser trieb die Aufklärer-Pose in seiner bekannten Video-Montage „Eine unbequeme Wahrheit“ (2006) nicht zufällig bis zur Karikatur. Den „Leugnern“ spricht er darin jegliches Existenzrecht ab. Stimmen, die die Todesstrafe für „Klimaskeptiker“ forderten, ließen denn auch nicht lange auf sich warten. Ohnehin riskieren Forscher, die sich nicht dem vom UN-„Weltklimarat“ IPCC proklamierten „Konsens“ über die menschliche Schuld am Klimawandel anschließen, längst ihre Karriere. Es ist von daher kein Wunder, dass sich Zweifler erst zu Wort melden, wenn sie das Ruhestandsalter erreicht haben. Kurz: Die Freiheit von Forschung und Wissenschaft ist heute auf diesem Gebiet wieder beinahe so stark bedroht wie im Nazi-Reich. Dazu bemerkte René Girard treffend: „Die Söhne wiederholen die Verbrechen ihrer Väter genau deshalb, weil sie sich ihnen moralisch überlegen fühlen.“
Auch die Diffamierung, soziale Ausgrenzung und wirtschaftliche Vernichtung von „Skeptikern“ ist eine Form von Lynchjustiz. Zu den Menschenopfern, die durch das manichäische Denken gerechtfertigt werden, zählen aber auch die Folgen des großtechnischen Vergärens oder Verheizens von Nahrungspflanzen wie Mais und Weizen zum Zwecke der Erzeugung „erneuerbarer“ Energie und die dadurch ausgelöste Konkurrenz zwischen Tank und Teller, die zur Verteuerung von Nahrungsmitteln und dadurch unmittelbar zu sinkenden Überlebenschancen für die Ärmsten der Armen führt. Die Verteuerung der Stromversorgung durch die Subventionierung „erneuerbarer“ Energien über die EEG-Umlage führt im angeblich reichen Deutschland zu einer neuen Form der Armut, weil sozial Benachteiligte ihre Stromrechnungen nicht mehr bezahlen können. Die mit der EEG-Umlage verbundene finanzielle Umverteilung von unten nach oben stellt sich in der gängigen Begründung der deutschen „Energiewende“ freilich ganz anders dar. Selbstverständlich will man den Armen nur Gutes tun und bietet ihnen daher alle möglichen Hilfen der Sozialbürokratie an.
Nicht zuletzt infolge der Aufarbeitung und „Bewältigung“ der Judenverfolgung im Nazi-Reich hat sich ein genereller Perspektivwechsel von den Verfolgern zu den Opfern vollzogen. Die Opfer kollektiver Lynchmorde gelten nicht mehr wie im antiken Dionysos-Kult oder in der frühneuzeitlichen Hexenverfolgung als schuldig, sondern von vornherein als unschuldig. Die Sorge um reale oder vermeintliche Opfer in Form der Menschenrechts-Ideologie (Humanitarismus oder Menschismus) ist sogar zur Triebkraft eines umgepolten mimetischen Wettstreits zwischen Gutmenschen geworden. René Girard hielt übrigens den daraus erwachsenden totalitären Imperativ und nicht die Expansion der internationalen Finanzindustrie für den primären Antrieb der heutigen Globalisierung. Darin könnte man den Triumph der Opfer-Perspektive des Christentums über Nietzsches Denunzierung der „Sklavenmoral“ und Rechtfertigung dionysischer Blutorgien sehen, würde nicht inzwischen gerade der eindeutig auf christliche Wurzeln zurückgehende Humanitarismus, mit Pussy Riot und Femen als Avantgarde, als blasphemische Propaganda für einen aggressiven Neopaganismus missbraucht.
Der neue Totalitarismus präsentiere sich als Befreier der Menschheit, bemerkte René Girard. Um Christi Platz zu usurpieren, ahmten die weltlichen Mächte ihn rivalisierend nach und brandmarkten die christliche Sorge um die Opfer als heuchlerische Nachahmung ihres authentischen Kreuzzugs gegen Unterdrückung und Verfolgung. So zeige sich die wahre Bedeutung der Rede des Neuen Testaments vom „Antichrist“: „Beim Versuch, seine Stellung erneut zu festigen und wieder zu triumphieren, bedient sich Satan in unserer Welt der Sprache der Opfer. Satan ahmt Christus immer perfekter nach und scheint ihn sogar zu übertreffen“, schloss Girard am Ende des 20. Jahrhunderts in seiner später auch auf Deutsch veröffentlichten „kritischen Apologie des Christentums“.


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