Europas Aufstieg
gründet nicht auf Menschenrechten
Von Edgar Ludwig Gärtner
Angebliche Freunde Europas sind dabei, die letzten 3.500 Jahre der menschlichen
Entwicklung umzuschreiben. Diese Umdeutung der Geistesgeschichte zielt vor
allem darauf ab, die Ur- oder Erbsünde des Menschen, die spätestens seit
Augustinus zum festen Bestandteil des abendländischen Menschenbildes gehört,
vergessen zu machen – wohl, um damit den massenhaft anstürmenden Zuwanderern
islamischen Glaubens entgegenzukommen. Denn im Islam gilt der Mensch von Geburt
an als Allah unterworfen und daher unschuldig. Wer von der Existenz der Ursünde
ausgeht, erkennt hingegen die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen an. Und das
ist für einen gläubigen Muslim unvorstellbar. Um Missverständnisse zu
vermeiden: Es geht im Folgenden weniger um die Gnade des christlichen Glaubens,
zu der vermutlich immer nur eine Minderheit Zugang finden wird, sondern um die breite
christliche Kultur. Darin gilt der Mensch nicht als unschuldige „blonde Bestie“,
sondern als fehlbar, dem Bösen zugeneigt, unfähig, aus sich heraus das Gute zu
tun, wenngleich grundsätzlich zum Erhabenen befähigt. (Ich gehe hier zunächst nicht
auf die Perversion dieses selbstkritischen Menschenbildes durch die
Kultivierung von Schuldkomplexen ein.)
Allerdings hat sich bereits die französische Aufklärung von
diesem Menschenbild abgewandt, indem sie zunehmend die Realität des Bösen
leugnete. Nach dem neuen politisch-korrekten Narrativ beginnt die europäische
Kultur nicht mit der Christianisierung der Franken und der späteren Übernahme
des römischen Rechts sowie der griechischen Philosophie, sondern mit der am 26.
August 1789 durch die französische Nationalversammlung verabschiedeten
Allgemeinen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Es war der aus dem
französischen Zentralmassiv stammende Marquis de Lafayette, ein im
amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zu Ruhm gelangter militärischer Führer, der
1789 als Mitglied der französischen Generalstände der Nationalversammlung einen
auf der Virgina Bill of Rights von 1776 und der noch älteren englischen Bill of
Rights sowie den politischen Philosophien von Montesquieu und Rousseau fußenden
Entwurf der Allgemeinen Menschenrechterklärung vorlegte – und das
selbstverständlich in bester Absicht.
In Artikel 2 des schließlich angenommenen Textes heißt es: „Der Zweck jeder politischen Vereinigung
ist die Erhaltung der natürlichen und unantastbaren Menschenrechte. Diese sind
das Recht auf Freiheit, das Recht auf Eigentum, das Recht auf Sicherheit und
das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung.“ Frankreich wurde damit zu einer der ersten Nationen, die
sich zumindest vordergründig nicht durch eine lange Tradition, sondern durch
einen historischen Bruch definierte. Denn bis dahin war viel mehr von Pflichten
als von Rechten die Rede. In der Erklärung von 1789 wurde freilich zum ersten
Mal in Kontinentaleuropa die Legitimität des Widerstands gegen despotische
Unterdrückung anerkannt.
Die
Menschenrechtserklärung von 1789 wurde zum Vorbild der am 10. Dezember 1948 von der
UN-Generalversammlung im Pariser Palais Chaillot verabschiedeten
(völkerrechtlich nicht verbindlichen!) Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.
Grundlage der in Paris angenommenen Textfassung war ein Katalog von 26 Menschenrechten,
die der bekannte französische katholische Philosoph Jacques Maritain auf der
Basis eigener Schriften in Mexiko ausgearbeitet hatte. Maritain übte später als
Berater von Papst Paul VI. großen Einfluss auf den Gang des Zweiten
Vatikanischen Konzils (1962-1965) aus. Hauptanliegen der progressistischen
Mehrheits-Fraktion der in Rom versammelten kirchlichen Würdenträger war nach
Aussage des dort als Berater des Kölner Kardinals Frings ebenfalls anwesenden
deutschen Theologen Joseph Ratzinger, des späteren Papstes Benedikt XVI., die
Versöhnung der Kirche mit dem Geist von 1789. Maritain, der sich später (wie
übrigens auch Paul VI. und Ratzinger) von etlichen vom Vatikanum II
angestoßenen Entwicklungen distanzierte, begründete sein Eintreten für die
Proklamation allgemeiner Menschenrechte mit der unter anderen auf den heiligen
Thomas von Aquin zurückgehenden Naturrechtslehre.
Doch inzwischen ist die Berufung auf Rechte, die die Menschen
sich selbst geben oder zu Naturrechten erklären, längst ins Absurde
abgeglitten. Da werden wie das Selbstverständlichste der Welt Rechte wie das
Recht auf „Ehe für alle“, das Recht auf Kinder, das Recht auf Abtreibung, das
Recht auf auskömmliche Arbeit, das Recht auf einen Mindestlohn, das Recht auf
ein bedingungsloses Grundeinkommen, das Recht auf grenzenlose Einwanderung, das
Recht auf Sezession, das Recht auf Leben und das Recht auf einen
selbstbestimmten Tod gefordert. Ansprüche auf „n’importe quoi“, würden die
Franzosen wohl sagen. Diese Inflation erfundener Menschenrechte kann meines
Erachtens nur gestoppt werden, indem die Theorie beziehungsweise Ideologie der
Menschenrechte grundsätzlich hinterfragt wird.
Simone Weil (1909-1943), jene hochintelligente, klassisch
gebildete französische Philosophin jüdischer Herkunft, die zur republikanischen
Widerstandskämpferin und christlichen Mystikerin wurde, ist da in ihrem im
britischen Exil geschriebenen und 1949 posthum veröffentlichten Werk „L’enracinement“
(Die Verwurzelung) kategorisch: Rechte gibt es nur, soweit ihnen
Verpflichtungen, Obligationen gegenüberstehen. Das Primat kommt also nicht den
Rechten, sondern den Pflichten zu. Es gibt deshalb keine allgemeinen
Menschenrechte, sondern nur Pflichten gegenüber sich selbst und gegenüber den
Mitmenschen. Weils Katalog der
Menschenpflichten beginnt nicht zufällig mit der Ordnung, gefolgt von der
Freiheit und der Verantwortung. Simone Weil wirft den Revolutionären von 1789 vor, einen
desaströsen Fehler begangen zu haben, indem sie allgemeine Menschenrechte
verkündeten, die zu Missverständnissen und Missbrauch geradezu einladen, statt
an eindeutige Pflichten jedes Individuums zu erinnern.
Für Christen gilt das Liebesgebot der demütigen Nachfolge Christi, das
ganz der Gegenwart zugewandt ist und dabei der Geschichte der eigenen Kultur
nicht mit Gleichgültigkeit oder Verachtung, sondern grundsätzlich mit dem
Gefühl der Dankbarkeit gegenübertritt. „Seid
gewiss: Ich bin bei Euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt. 28,20) Diese
Versicherung des vom Tode auferstandenen Jesus gegenüber seinen Jüngern kann
nur so verstanden werden, dass sich seit 2.000 Jahren nichts Wesentliches
geändert hat. Das Bewusstsein von der unmittelbaren Gegenwart Christi im
täglichen Leben ist im ehemals christlichen Abendland allerdings nur noch bei
einer als fundamentalistisch geschmähten Minderheit vorhanden.
Der Eintritt des Gottessohnes Jesus in die Geschichte wurde bislang auch
von Nichtchristen als Einschnitt, wenn nicht als entscheidende Weggabelung in
der Menschheitsentwicklung gewürdigt. Zumindest begann noch bis vor kurzem die
moderne Zeitrechnung mit der Fleischwerdung des Wortes. Im Unterschied zur Behauptung,
mit der Entdeckung Amerikas oder der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung
der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 beziehungsweise der Einführung des Code civil durch Napoléon Bonaparte sei
eine neue Zeit angebrochen, bezieht sich die christliche Zeitrechnung auf einen
wirklichen historischen Bruch. Worin diese geschichtliche Wende genau besteht,
hat meines Erachtens der im November 2015 verstorbene französisch-amerikanische
Literaturwissenschaftler René Girard am überzeugendsten dargelegt. Ausgehend
von literarischen Zeugnissen sowie von ethnologischen Forschungen kam Girard,
angeregt von Simone Weil, zur Erkenntnis, dass die Bibel neben der frohen Botschaft
der Erlösung auch den Schlüssel für die wissenschaftliche Erklärung des
Ursprungs der Kultur enthält: Wir sind alle Nachkommen Adams und Kains,
besitzen also aufgrund der Ursünde der Trennung von Gott einen angeborenen
Hang, andere zu beneiden, uns mit ihnen zu vergleichen, sie übertreffen beziehungsweise
richten zu wollen und uns am Ende selbst an Gottes Stelle zu setzen. Das
Begehren tritt bei den Menschen an die Stelle der tierischen Instinkte. Physiologische
Grundlage dieses Mimetismus sind wahrscheinlich die so genannten
Spiegelneurone. Grundsätzlich ist das zunächst etwas Positives, weil es uns zur
Einfühlsamkeit, zum Lernen durch Nachahmung und zur Freiheit von uns selbst befähigt.
Aber sehr leicht wird daraus im wahrsten Sinne des Wortes ein Teufelskreis. Die
Nachahmung anderer führt zu konkurrierenden Macht- und Besitzansprüchen, die
nach einer gewaltsamen Lösung drängen. In allen Stammesgesellschaften besteht
diese „Lösung“ im Ausgucken von (austauschbaren) Sündenböcken, die einem Lynch-Mob
zum Opfer fallen.
Der Ursprung aller Kultur und auch des Staates liegt für René Girard und
etliche moderne Anthropologen in rituellen Menschenopfern und Kannibalismus.
Etwas zugespitzt könnte man sagen: Der Mensch ist von Natur aus Kannibale – und
zwar nicht aufgrund eines angeborenen Aggressions- oder Tötungstriebs, sondern
wegen der mimetischen Rivalität, die auf das von Satan angestachelte Begehren
zurückgeht. Die vom heiligen Augustinus so bezeichnete menschliche Ursünde (im
Deutschen etwas unglücklich als „Erbsünde“ übersetzt) besteht nach Girard im
falschen Gebrauch der Mimesis, im Wunsch, Mitmenschen zu übertreffen und letztlich
gottgleich zu werden. Alle Ursprungs-Mythen spielen in der einen oder anderen
Weise auf den blutigen Ursprung der menschlichen Kultur an.
Schon in den Stammesgemeinschaften von Jägern und Sammlern konnten Neid
und Zwietracht nur besänftigt und damit der Selbstzerstörung der Gemeinschaft
Einhalt geboten werden, indem von Zeit zu Zeit Sündenböcke geopfert wurden. Das
konnten gefangen genommene Angehörige feindlicher Stämme, aber auch auffällige Angehörige
des eigenen Stammes sein. Das Töten geschah um des lieben Friedens willen mit
gutem Gewissen. Das heißt die Opfer wurden unreflektiert als schuldig
betrachtet. Durch die Wahl des Sündenbocks wurde aus dem Kampf aller gegen alle
der vereinte Angriff aller gegen einen einzigen. So wurde durch die Opferung
des Sündenbocks für eine gewisse Zeit wieder Eintracht hergestellt. Die alten
Griechen nannten das Katharsis. Die
Opfer dionysischer Lynchmorde wurden deshalb in Mythologien divinisiert.
In hoch differenzierten Sklavenhalter-Staaten wie im alten Rom oder bei
den Azteken in Mexiko wurden Menschenopfer in Form von Gladiatorenkämpfen oder der
Kreuzigung beziehungsweise priesterlichen Tötungs-Zeremonien vor großem
Publikum ritualisiert. Einen Fortschritt aus heutiger Sicht stellte da sicher
der Ersatz der Menschen- durch Tieropfer bei den Juden dar. Das Alte Testament
ist, wie insbesondere die Hiobs- und die Josefsgeschichte zeigen, die
Schilderung der sukzessiven Überwindung des mimetischen Teufelskreises aufgrund
des Moses am Berg Sinai auf steinernen Tafeln übergebenen Dekalogs.
Von Rechten ist
darin nicht die Rede, sondern nur von Verboten und Pflichten. Bis vor etwa
einem Jahrzehnt glaubte ich selbst noch, die Menschen hätten, dem liberalen
Credo entsprechend, durch Versuch und Irrtum allmählich auch selbst darauf
kommen können. Das glaube ich heute nicht mehr. Gesellschaftliche
Selbstorganisation, Marktwirtschaft als Entdeckungsverfahren im Hayekschen Sinn
führt meines Erachtens nur dann zu vernünftigen Ergebnissen, wenn dieser
Prozess auf vernünftigen Regeln (Geboten und Verboten) fußt. Diese Anleitungen
brauchen, wie die östlichen Religionen zeigen, nicht unbedingt vom Himmel
fallen, sondern können auch von weisen Ausnahme-Persönlichkeiten formuliert werden. Es ist aber
schwer vorstellbar, dass die Regeln in einem zufallsbestimmten Ausleseprozess
entstehen.
Das siebte
Gebot des Dekalogs „Du sollst nicht stehlen!“ schließt zum Beispiel alle Formen
des Wirtschaftens aus, die auf Raub oder Diebstahl fremden Eigentums beruhen.
Wer den Dekalog ernstnimmt, landet folgerichtig bei der auf freiwilligem Tausch
beruhenden kapitalistischen Marktwirtschaft und nicht beim Sozialismus in
welcher Form auch immer. Eine auf Dauer angelegte Ordnung – sei es in der
außermenschlichen Natur oder im Zusammenleben der Menschen – kann nicht durch
Zufall entstehen. Es bedarf hierzu des Anstoßes durch die richtige Information,
den λόγος im Sinne des Johannes-Evangeliums, wobei lógos kein leeres Wort, sondern eine Relation, die Verbindung zu
Gottvater bezeichnet. Erst durch die Anerkennung des Tötungs-, Diebstahls-,
Lügen- und Neid-Verbots verlassen die Menschen das barbarische beziehungsweise
kannibalische Stadium der Kulturentwicklung.
Das Neue Testament geht noch einen entscheidenden Schritt weiter, indem
es die Wahrheit über den unbewussten Mechanismus des Auswählens und Hinrichtens
von Sündenböcken offenbart und als Mord an Unschuldigen denunziert. Mit seinem
Opfertod am Kreuz, so die Aussage der Bibel, hat Jesus Satan überlistet, indem
er als unschuldiges Opferlamm stellvertretend für alle Sünden der Welt gebüßt
und dadurch die Menschen vom Fluch Kains erlöst hat. Weitere Menschen- und
Tieropfer sind danach im Prinzip überflüssig. Die Christen sind aufgefordert,
Jesu Nachfolge anzutreten, indem sie den unbewussten Mechanismus der Suche nach
Sündenböcken in der Eucharistie überwinden. Die heilige Kommunion ist nach
Girard tatsächlich sublimierter Kannibalismus.
Alle manichäischen Selbsterlösungs-Phantasien, die im Laufe der
Geschichte des Christentums auftraten, bedeuten einen Rückfall in die
Rechtfertigung von Menschenopfern, wozu auch die Selbstopferung durch übertriebene
asketische Übungen zählt. Das zeigt sich besonders deutlich im Islam, der auf
einem Synkretismus mehrerer Häresien beruht, in deren Zentrum die Leugnung der
Gottessohnschaft, des Kreuzestodes und der Auferstehung Jesu Christi steht.
Eine politische Religion, die Menschenopfer und Sklaverei rechtfertigt, darf
nicht, wie das heute die postmoderne Multikulti-Ideologie fordert, mit dem
Christentum auf eine Stufe gestellt werden!
Der Begriff „Manichäismus“ ist heute im deutschsprachigen Raum nicht
mehr so gebräuchlich wie bei den Franzosen. Statt von Manichäern sprechen wir
treffender von „Gutmenschen“. Denn es geht dabei im Kern um die Verdrängung der
Unterscheidung zwischen „wahr“ und „falsch“ durch die Einteilung der Welt in
„Gut“ und „Böse“. Da es echte Freiheit nicht ohne Wahrheitsbezug geben kann,
ist diese Verdrängung höchst bedenklich.
Der Begriff „Manichäismus“ geht zurück auf die gnostische Lehre des
babylonischen Religionsstifters Mani (216 bis 276). Die ihr zugrundeliegende
Denkfigur ist aber wesentlich älter. Denn was Jesus Christus nach dem Zeugnis
der Bibel den Pharisäern (genau genommen: den Sadduzäern) vorwirft, ist bereits
Manichäismus reinsten Wassers. Denn diese erheben den Anspruch, durch die
strenge Befolgung des Gesetzes zu besseren Menschen geworden zu sein. Jesus
betonte hingegen, als er eine Ehebrecherin vor der Steinigung bewahrte (Joh 8,
3-11), niemand dürfe sich zum Richter über andere aufspielen, weil wir alle
Sünder sind.
Aufgrund anthropologischer und ethnologischer Forschungen wissen wir heute,
dass kannibalistische Rituale wie eben auch Steinigungen immer
kollektivistischen Logiken folgen. Jesu Aufforderung „Wer ohne Sünde ist, der hebe
den ersten Stein“ könnte deshalb auch ein genialer psychologischer Trick
gewesen sein, um die kollektivistische Logik zu durchbrechen, da er die
versammelten Männer unvermittelt als Individuen anspricht.
Es gehört zu den Kernsätzen des christlichen Glaubens, dass die Menschen
sich nicht selbst erlösen können, weil sie die Lebensressourcen Liebe und Sinn
nicht selber herstellen, sondern nur von außen empfangen können. Die erste
große häretische Bewegung in der Geschichte des Christentums, die Gnosis,
hingegen behauptete, nicht die Erlösung durch den stellvertretenden Opfertod
Jesu Christi am Kreuz führe zum Heil, sondern die Erkenntnis beziehungsweise „Erleuchtung“,
dass der Gott des Alten Testaments in Wirklichkeit Satan gewesen sei, weil er
die materielle Welt als „Gefängnis des Lichts“, erschaffen habe. Hier hat
übrigens der Antisemitismus seine theologischen Wurzeln. Die systematische
Verfolgung und Vernichtung von Juden durch die Nazis war die bislang
schrecklichste Konsequenz eines gnostischen Selbsterlösungs-Wahns.
Der von der Kirche auf etlichen Konzilen verurteilte und später in Form
von Kreuzzügen physisch bekämpfte gnostisch-manichäische Reinheitskult geht von
folgenden den Geist der Bibel verfälschenden Annahmen aus: Die geistige Welt
des Lichts wurde vom guten Licht-Gott erschaffen, die materielle Welt hingegen
vom bösen Gott, dem „Fürsten der Finsternis“. Folglich kann der gute Gott nicht
körperlich Mensch geworden sein und die Schuld der Menschen durch den Tod am
Kreuz auf sich genommen haben. Er kann danach auch nicht leiblich
wiederauferstanden sein. Die damit begründete Leibfeindlichkeit wurde im
Hochmittelalter (vom 11. bis zum 13. Jahrhundert) von den verschiedenen Sekten
der Katharer („die Reinen“) auf die Spitze getrieben. Entsprechend ihrem
häretischen Ideal der Selbstvervollkommnung unterteilten diese ihre Anhänger in
eine kleine Elite, die „Vollkommenen“ (Perfecti), und die Masse der einfachen
Gläubigen (Credenti). Um der Gefangenschaft des Materiellen zu entfliehen,
verboten sie ihren Anhängern den Fleischgenuss und zwangen die Elite der
„Vollkommenen“ zu Gütergemeinschaft, Armut und Ehelosigkeit. Ihr Leben sollten
sie durch Selbstmord (Endura) beenden. Kein Wunder, dass Hitler und die
führenden Ideologen der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands in
den Katharern Seelenverwandte und Vorläufer ihrer Bewegung sahen und während
der deutschen Besatzung Frankreichs trotz kriegswirtschaftlicher Rationierung größere
Summen in Aussicht stellten, um halb verfallene Katharer-Burgen in Südfrankreich zu
restaurieren.
Die gnostisch-manichäische Denkfigur spielte aber nicht nur bei den
Katharern eine unheilvolle Rolle, sondern, wie bereits angedeutet, auch und
gerade in der kontinentaleuropäischen „Aufklärung“ (im Unterschied zur
christlich geprägten schottischen Aufklärung). Ich stelle den Begriff hier
bewusst in Anführungszeichen, weil er meines Erachtens Ausdruck von Anmaßung
und Eigenlob ist. (Ich schließe mich hier den Ausführungen des in Liechtenstein
lehrenden liberalen Religionsphilosophen Daniel von Wachter an.) Mit dem erst
im Jahre 1775 geprägten Begriff feierten sich philosophierende Schriftsteller
als Erleuchtete, die endlich das Licht der Vernunft in die vom abergläubischen
Christentum verursachte Dunkelheit des Mittelalters brachten. Sie stellten also
in manichäischer Manier das „gute“ Zeitalter der Aufklärung dem „bösen“ Mittelalter
entgegen, indem sie den scholastischen Philosophen unterstellten, sie hätten
die Erde für eine Scheibe gehalten. Zwischen Mittelalter und „Aufklärung“ gebe
es einen historischen Bruch, behaupteten sie. Der deutsche Mediävist Johannes
Fried weist in seiner großen Geschichte des Mittelalters darauf hin, dass im
deutschen Sprachraum nicht zuletzt Emmanuel Kant mit seinen spöttischen
Bemerkungen über den Katholizismus und den Kunstgeschmack des „finsteren
Mittelalters“ den Eindruck erweckte, als hätten erst Voltaire und seine Freunde
den Vernunftgebrauch erfunden. Ein Hinweis auf mittelalterliche Denker wie
Thomas von Aquin, dessen Philosophie Kant nicht zur Kenntnis nahm, sollte
genügen, um die Absurdität dieser selbstgerechten Pose zu illustrieren.
Bei unvoreingenommener Betrachtung erscheint die Zeit zwischen 500 und
1500 nach Christus im Gegenteil als eine der kreativsten Epochen der
Weltgeschichte. Im Mittelalter entstanden nicht nur die geistigen
Voraussetzungen für die modernen Naturwissenschaften, die der Vorstellung eines
vernünftigen Schöpfers der Welt bedurften, also nur in einer jüdisch-christlich
geprägten Kultur aufblühen konnten. Dabei konnten die Gelehrten auch auf
Erkenntnisse von Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften im alten
Griechenland zurückgreifen. Im Mittelalter bildete sich auch eine vom
altgriechischen Vorbild inspirierte Kultur städtischer Selbstverwaltung mit
Gedanken- und Redefreiheit heraus. Mit dem Erstarken des städtischen Bürgertums
wurde dann jene Idee der religiösen und politischen Freiheit wirkmächtig, deren
Urheberschaft die „Aufklärer“ für sich beanspruchen. Fried gelangt zum Schluss:
„Das Mittelalter war reifer und weiser,
neugieriger, erfindungsreicher und kunstsinniger, revolutionärer in
Vernunftgebrauch und Denken als jene Aufklärer ahnten und die meisten
Zeitgenossen des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts meinen. Dieses
Mittelalter war zugleich demütiger und bescheidener in seinen Urteilen über
sich selbst.“
Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich möchte hier nicht das Kind mit
dem Bade ausschütten und stehe selbstverständlich zu den wirklich vernünftigen
Errungenschaften, die wir, direkt oder indirekt, der Aufklärung verdanken. Ich
lehne es aber ab, darin einen Bruch mit dem Mittelalter zu sehen. Zu den
problematischen Hinterlassenschaften der Aufklärung gehört freilich nicht nur
das oben skizzierte irreführende Bild vom christlichen Mittelalter, sondern
eine noch verhängnisvollere Erfindung: die geistige Gleichschaltung im Sinne
der Political Correctness.
Die schon in der Aufklärung angelegte Tendenz zur Gleichschaltung des
wissenschaftlichen Diskurses nimmt in der Postmoderne vollends überhand. Hier
zählen Fakten am Ende gar nicht mehr, sondern nur noch Simulationen und deren
Interpretation. Einmütigkeit über faktenfreie Hypothesen und Theorien kann eben
nur mittels politischer Gleichschaltung hergestellt werden. Das zeigt sich
aktuell besonders deutlich in der mithilfe von Computersimulationen geschürten
Angst vor einer Klimakatastrophe infolge eines Anstiegs der atmosphärischen
Kohlenstoffdioxid-Konzentration. Dabei bedienen sich die selbst ernannten
Klimaschützer der in Deutschland vor allem von der Frankfurter Schule
salonfähig gemachten manichäischen Denkfigur „Gut“ gegen „Wahr“. Die Ächtung
des wichtigsten Pflanzennährstoffs als „Klimakiller“ schließt ja ein, dass man
die materielle Welt letztlich für ein Werk Satans hält, an dessen Existenz man
aber als Postmoderner zumindest nach außen hin gar nicht glauben darf. Die
Forderung, den ökologischen Fußabdruck der Menschheit zu minimieren, könnte
direkt von den Katharern übernommen sein. Wie ihre mittelalterlichen Vorgänger
fordern auch die modernen Manichäer einen radikalen Bruch mit der schlechten
Vergangenheit, indem sie eine „Energiewende“ ausrufen.
Erinnert sei hier auch an das pharisäerhafte Auftreten des
Ex-US-Vizepräsidenten und Friedens-Nobelpreisträgers Al Gore. Dieser trieb die
Aufklärer-Pose in seiner bekannten Video-Montage „Eine unbequeme Wahrheit“ (2006) nicht zufällig bis zur Karikatur.
Den „Leugnern“ spricht er darin jegliches Existenzrecht ab. Stimmen, die die
Todesstrafe für „Klimaskeptiker“ forderten, ließen denn auch nicht lange auf
sich warten. Ohnehin riskieren Forscher, die sich nicht dem vom
UN-„Weltklimarat“ IPCC proklamierten „Konsens“ über die menschliche Schuld am
Klimawandel anschließen, längst ihre Karriere. Es ist von daher kein Wunder, dass
sich Zweifler erst zu Wort melden, wenn sie das Ruhestandsalter erreicht haben.
Kurz: Die Freiheit von Forschung und Wissenschaft ist heute auf diesem Gebiet
wieder beinahe so stark bedroht wie im Nazi-Reich. Dazu bemerkte René Girard
treffend: „Die Söhne wiederholen die
Verbrechen ihrer Väter genau deshalb, weil sie sich ihnen moralisch überlegen
fühlen.“
Auch die Diffamierung, soziale Ausgrenzung und
wirtschaftliche Vernichtung von „Skeptikern“ ist eine Form von Lynchjustiz. Zu
den Menschenopfern, die durch das manichäische Denken gerechtfertigt werden,
zählen aber auch die Folgen des großtechnischen Vergärens oder Verheizens von
Nahrungspflanzen wie Mais und Weizen zum Zwecke der Erzeugung „erneuerbarer“
Energie und die dadurch ausgelöste Konkurrenz zwischen Tank und Teller, die zur
Verteuerung von Nahrungsmitteln und dadurch unmittelbar zu sinkenden
Überlebenschancen für die Ärmsten der Armen führt. Die Verteuerung der
Stromversorgung durch die Subventionierung „erneuerbarer“ Energien über die
EEG-Umlage führt im angeblich reichen Deutschland zu einer neuen Form der
Armut, weil sozial Benachteiligte ihre Stromrechnungen nicht mehr bezahlen
können. Die mit der EEG-Umlage verbundene finanzielle Umverteilung von unten
nach oben stellt sich in der gängigen Begründung der deutschen „Energiewende“
freilich ganz anders dar. Selbstverständlich will man den Armen nur Gutes tun
und bietet ihnen daher alle möglichen Hilfen der Sozialbürokratie an.
Nicht zuletzt infolge der Aufarbeitung und
„Bewältigung“ der Judenverfolgung im Nazi-Reich hat sich ein genereller
Perspektivwechsel von den Verfolgern zu den Opfern vollzogen. Die Opfer
kollektiver Lynchmorde gelten nicht mehr wie im antiken Dionysos-Kult oder in
der frühneuzeitlichen Hexenverfolgung als schuldig, sondern von vornherein als
unschuldig. Die Sorge um reale oder vermeintliche Opfer in Form der
Menschenrechts-Ideologie (Humanitarismus oder Menschismus) ist sogar zur
Triebkraft eines umgepolten mimetischen Wettstreits zwischen Gutmenschen
geworden. René Girard hielt übrigens den daraus erwachsenden totalitären
Imperativ und nicht die Expansion der internationalen Finanzindustrie für den
primären Antrieb der heutigen Globalisierung. Darin könnte man den Triumph der
Opfer-Perspektive des Christentums über Nietzsches Denunzierung der
„Sklavenmoral“ und Rechtfertigung dionysischer Blutorgien sehen, würde nicht
inzwischen gerade der eindeutig auf christliche Wurzeln zurückgehende
Humanitarismus, mit Pussy Riot und Femen als Avantgarde, als blasphemische
Propaganda für einen aggressiven Neopaganismus missbraucht.
Der neue Totalitarismus präsentiere sich als
Befreier der Menschheit, bemerkte René Girard. Um Christi Platz zu usurpieren,
ahmten die weltlichen Mächte ihn rivalisierend nach und brandmarkten die
christliche Sorge um die Opfer als heuchlerische Nachahmung ihres authentischen
Kreuzzugs gegen Unterdrückung und Verfolgung. So zeige sich die wahre Bedeutung
der Rede des Neuen Testaments vom „Antichrist“: „Beim Versuch, seine
Stellung erneut zu festigen und wieder zu triumphieren, bedient sich Satan in
unserer Welt der Sprache der Opfer. Satan ahmt Christus immer perfekter nach
und scheint ihn sogar zu übertreffen“, schloss Girard am Ende des 20. Jahrhunderts
in seiner später auch auf Deutsch veröffentlichten „kritischen Apologie des
Christentums“.
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